In den Medien

Staat und Nation getrennt denken

Wenn Europa seine zivilisatorische Kraft erhalten will, muss es den Mut aufbringen, sich an sein erfolgreichstes Projekt heranzuwagen: den Nationalstaat.

Herausgegeben von
Neue Zürcher Zeitung
 on 12. November 2012

Source: Neue Zürcher Zeitung

Nach fast vier Jahren ist die europäische Währungs-, Haushalts- und Schuldenkrise endlich in ihre politische Phase getreten. War das Krisenmanagement bisher vor allem eine Abfolge kurzfristiger Massnahmen zur Eindämmung der schlimmsten ökonomischen Verwerfungen, so ist nun die Debatte um das eigentliche Problem entbrannt: Wie soll die Europäische Union nach der Krise aussehen? Wie geht es weiter mit dem Einigungsprozess? Fast allen Beteiligten ist klar, dass der weit fortgeschrittenen ökonomischen Integration eine echte politische Union folgen muss. Zwar ist höchst umstritten, in welcher Form und bis wann ein solch grosser Integrationsschritt erfolgen soll, doch eins ist sicher: Er wird am Fundament dessen rütteln, was die politische Ordnung in Europa, und letztlich der Welt, im Kern ausmacht – der Einheit von Staat und Nation.

Neben der Trennung von Kirche und Staat, der Aufklärung und dem Humanismus ist der Nationalstaat die wohl erfolgreichste, bedeutendste und folgenreichste Erfindung der europäischen Geistesgeschichte. Die Vermählung der identitätsstiftenden Kraft der Nation mit den enormen Potenzialen rationaler, regelbasierter, technokratischer Staatlichkeit – ursprünglich ein Projekt des klassischen Griechenland und später, entscheidender, des antiken Rom – brachte das erfolgreichste politische Projekt der Geschichte hervor. Keine andere politische Organisationsform bietet ihren Mitgliedern dieselbe Mischung aus Zugehörigkeit und Leistungskraft. Der Nationalstaat ist so erfolgreich, dass die Begriffe Nation und Staat heute sogar weitgehend synonym verwendet werden.

Die europäische Integration war von Beginn an ein Angriff auf diese enge Verbindung. Während dies weitgehend folgenlos blieb, solange sich die Integration auf Politikfelder ausserhalb des Kernbereichs nationalstaatlicher Souveränität erstreckte, bringt die Krise das Gefüge ins Wanken. Ein kritischer Punkt ist erreicht. Das Überleben nicht nur des Einigungswerks, sondern des beispiellosen Wohlstandes, der Freiheit und der Stabilität des gesamten Kontinents wird langfristig davon abhängen, ob die Europäer sich in der Zukunft Staat und Nation getrennt vorstellen können.

Auf den ersten Blick klingt diese Vorstellung bedrohlich. Die Schaffung staatsähnlicher Entscheidungs- und Verwaltungsverfahren oberhalb der Ebene der Nation ist aber weder ganz neu, noch wird sie historisch gewachsene Identitäten ersetzen. Das kann und soll sie auch gar nicht. Man wird auch weiter stolzer Franzose, Niederländer oder Pole sein, obgleich man jene Entscheidungsbereiche, die die Völker gemeinsam betreffen, auch gemeinsam bearbeitet und verwaltet. Die normative Kraft wachsender weltpolitischer Herausforderungen, des globalen Wettbewerbs und der schwindenden Bedeutung Europas macht eine solche Zusammenarbeit unabdingbar. Mehr europäische Integration ist nicht die utopische Kopfgeburt entwurzelter Weltbürger, sondern der eisenharte Realismus derjenigen, die ihre Heimat lieben. Wie immer gilt: Wenn alles beim Alten bleiben soll, muss sich alles ändern. Am Übergang vom Mittelalter zur Moderne bot der erwachende Nationalstaat den Völkern Europas die leistungsfähigste Organisationsform zum Überleben in der neuen politischen und wirtschaftlichen Realität. Heute müssen sich die Nationen aus denselben Gründen in einem nächsten Schritt zu staatsähnlichen Gebilden zusammenschliessen. Im Unterschied zur Zeit vor 500 Jahren kann dieser Zusammenschluss aber heute viel weniger schmerzhaft und vor allem gewaltfrei ablaufen. Nationalstaaten werden ja nicht abgeschafft, und anders als damals wird niemand zur Aufgabe gewachsener Identitäten und Loyalitäten gezwungen. Integration fügt den schon immer vielfach geschichteten Identitäten lediglich eine weitere Schicht hinzu.

Die europäischen Völker verfügen über eine grosse Vielfalt von Identitäten und über hohe Flexibilität im Umgang damit. Grossbritannien vereint mindestens drei Nationen in einem Staat. Die stark ausgeprägte nationale Identität Frankreichs versöhnt ein anarchisches Politikverständnis mit hoher Staatsgläubigkeit. Die Deutschen haben eine höhere Meinung von ihrem Staat als von ihrer Nation. In Italien ist das Nationalgefühl schwach (ausser beim Fussball), aber die Identifikation mit der Heimatregion dafür umso stärker. Belgien besteht aus zwei Staaten innerhalb einer Nation (oder sind es eher zwei Nationen innerhalb eines Staates?). Das Konzept des Nationalstaates wird in Europa flexibel gelebt und interpretiert. Warum sollte ein Kontinent, der sich so geschickt auf das usbalancieren von Vielfalt und Einheit versteht, nicht auch eine neue geschichtsträchtige Innovation hervorbringen können, die in der Lage ist, den veränderten Umständen Rechnung zu tragen?

Technisch gesehen, ist die Schaffung staatsähnlicher supranationaler Institutionen einfach. Viel wichtiger ist es aber, den betroffenen Menschen auch emotionalen Zugang zu ihnen zu schaffen, so dass politische Legitimität entstehen kann. Das Geheimnis des Nationalstaats ist, dass er die drei essenziellen Faktoren Identität, Legitimität und Souveränität gemeinsam hervorbringen kann. Heute müssen Souveränität und Legitimität vorsichtig angepasst werden, ohne dass bestehende Identitäten beschädigt werden. Dies ist die eigentliche Herausforderung der gegenwärtigen Krise. Wenn Europa seinen Reichtum und seine zivilisatorische Kraft erhalten will, dann hängt vieles davon ab, ob es Jahrhunderte nach Erfindung des Nationalstaates die Lebensbedingungen auf seinem Kontinent erneut entscheidend weiterentwickeln kann.

Der Artikel wurde ursprünglich in Neue Zürcher Zeitung veröffentlicht.

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