In den Medien

Angela Merkel Neudefinition von Führungsstärke

Die deutsche Kanzlerin trumpft nicht auf, sie tritt niemals autoritär auf und demütigt niemanden. Gerade dieser kooperative, vernunftbasierte, vernetzte Führungsstil verschafft ihr auf der Schwelle zur vierten Amtszeit enormen Einfluss.

von Bernd Ulrich
Herausgegeben von
Strategic Europe
 on 22. September 2017

Source: Strategic Europe

Über die Schwächen von Angela Merkel (Unschärfe des Programms, Mangel an Selbstinterpretation und Redekraft, Zögerlichkeit) reden wir ein andermal. Heute soll es um ihre Stärken gehen und darum, wie sie sich im Falle eines erneuten Wahlsieges verändern wird.

Zu den größten Stärken dieser Kanzlerin gehört, dass sie neu definiert hat, was Stärke überhaupt ist. Nämlich nichts, was mit sichtbarer Dominanz, mit hochfahrendem Stolz, mit leicht entflammbarer Ehre, mit Angeberei, Drohgebärden und öffentlicher Demütigung zu tun hat oder mit der Fähigkeit, anderen Angst zu machen. Man kann die politisch-kulturelle Bedeutung dieser Freiheit von klassischer männlicher Schein-Stärke gar nicht überschätzen. Vor allem für Deutschland war das enorm wichtig, denn das Land wurde in den letzten Jahren dazu gezwungen, aus seinem eigenen Machtschatten zu treten. Jahrzehntelang hat noch jede deutsche Regierung die eigene Stärke unterspielt und sich eisern bemüht, niemals allein auf der internationalen Bühne zu stehen.

Leider funktionierte das spätestens seit der Euro-Krise nicht mehr, weil sie die Schwäche Frankreichs offenbarte. Auch der zunächst allmähliche (unter Obama), dann disruptive (unter Trump) Rückzug der USA aus den europäischen Nachbarschaftskonflikten sowie der Rückzug des Landes aus der militärisch-moralischen Führungsrolle des Westens ließ die Bedeutung des europäischen Riesen in der Mitte stärker hervortreten. Diese neue Rolle jedoch, diese für Deutsche höchst unangenehme Sichtbarkeit war wahrscheinlich nur deshalb für alle Beteiligten leidlich erträglich, weil an der Spitze der Bundesregierung eine Frau, nein, diese Frau stand und steht.

Merkel trumpft nicht auf, sie tritt niemals autoritär auf und schafft so Raum für einen kooperativen, vernunftbasierten, vernetzten Führungsstil in Europa. Und Europa wiederum ist schon durch seine Struktur zu einer ganz anderen Art von internationaler Politik bestimmt als die beiden anderen Großmächte USA und China. Die EU ist sozusagen die Merkel unter den Mächten.

Woher hat die Frau aus dem Osten diese Fähigkeit, aus einem Minimum an äußerer Dominanz ein Maximum an faktischem Einfluss zu generieren? Meines Erachtens liegt der Schlüssel dafür in dem Moment, als aus der jungen Physikerin hinter der Berliner Mauer binnen weniger Monate eine gesamt-deutsche Spitzenpolitikern wurde. Drei schwerwiegende Nachteile musste sie kompensieren: 1. Sie hatte keine Ahnung von Politik 2. Sie war eine Fremde in diesem westdeutschen Land, das sie plötzlich mitregieren sollte, und sie landete 3. in der maskulinsten Partei von allen – in der CDU.

Dieser dreifache Nachteil ließ sich nur kompensieren, wenn sie ständig lernte, und zwar in hohem Tempo; sie konnte es sich auch nicht leisten, sich Feinde zu machen, weil sie zunächst sehr wenige Freunde hatte; durchsetzen konnte sie sich stets nur, indem sie in den Schuhen der anderen ging, nicht in offener Feldschlacht; Verstehen und Verständnis waren ihre effektivsten Waffen; allzu große Reden hätten ihre knappen Machtressourcen ebenso schnell aufgezehrt wie überflüssige Gefühle, eben Rache, aber auch zu große persönliche Loyalität.

Der deutsche Philosoph G.W.F Hegel hat gesagt: „Der Anfang bestimmt das Ganze.“ Für Merkel trifft das ohne weiteres zu, weil sie beinahe ihre ganze Karriere gewissermaßen in Unterzahl gespielt hat, kaum hatte sie eine Stufe erklommen und konnte sich einigermaßen sicher fühlen, da kam schon die nächst höhere Stufe, wo sie wiederum gut beraten war, an ihrem energiesparenden und menschenschonenden Stil festzuhalten. Kaum hatte sie als Frauenministerin Innenpolitik gelernt, schon musste sie sich als Umweltministerin international bewähren. Kaum hatte sie das geschafft, rückte die Frau ohne Netzwerk an die Spitze ihrer sehr netzwerk-getriebenen Partei vor. Bald danach wurde sie Bundeskanzlerin, und dann kamen die Krisen auf immer höherer Stufenleiter: Euro, Ukraine, Flüchtlinge, Trump.

Deutsche Philosophen haben bekanntermaßen nie ganz Recht. In Merkels womöglich vierter Amtszeit verliert die Prägung des Anfangs ihre Kraft, denn es entfallen viele Rahmenbedingungen ihrer bisherigen Karriere. Sie wird dann einerseits zur lahmen Ente, weil niemand mehr davon ausgeht, dass sie zum fünften Mal antritt. Auf der anderen, der positiven Seite beherrscht Merkel das politische Geschäft mittlerweile wie kaum ein anderer Politiker in Deutschland und in der Welt, das gibt ihr eine ungeahnte Freiheit. Merkels neue Musik ist dann keine Kammermusik mehr, sie spielt jetzt Jazz. Aber was für einen?

Es war ein typisch amerikanisches Missverständnis, die Bundeskanzlerin zur neuen Führerin der westlichen Welt zu erklären. Denn natürlich kann sie nur führen, wenn darunter etwas völlig anderes – eben etwas Vernetztes, Weibliches, Kooperatives – verstanden wird, anders, als es die amerikanische Führung jemals war und auch unter Hillary Clinton gewesen wäre. Es könnte gut sein, dass Merkel dieses Andere, Alternative künftig noch mehr hervortreten lässt. Vielleicht will sie der Welt zeigen, wie man sich umringt von autoritären Staaten und autoritären Typen behaupten kann, ohne ihnen ähnlich zu werden. Es wäre ihr letzter großer Dienst als Politikerin. Kein kleiner, würde ich sagen.

Bernd Ulrich ist stellvertretender Chefredakteur sowie Leiter des Politikressorts der Wochenzeitung Die Zeit.

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