In den Medien

Die EU-Agenda muss von normalen Bürgern bestimmt werden

Die EU die Stimme der Bürger hören und neue, partizipative Ansätze finden muss.

Herausgegeben von
Euractiv
 on 4. Januar 2018

Source: Euractiv

Der Politikwissenschaftler Richard Youngs sagt im Interview mit EURACTIV.com, dass die EU die Stimme der Bürger hören und neue, partizipative Ansätze finden muss. In seinem neuen Buch beschreibt er, wie dies erreicht werden kann

Richard Youngs ist Forschungsbeauftragter bei Carnegie Europe und Professor für internationale Beziehungen an der University of Warwick. Er hat bisher elf Bücher veröffentlicht; das neueste trägt den Titel Europe Reset: New directions for the EU.

Youngs sprach mit EURACTIVs Chefredakteurin Daniela Vincenti.

Die EU sieht sich vielfältigen Herausforderungen gegenüber. In Ihrem neuen Buch plädieren Sie für einen Neustart. Wie könnte dieser aussehen?

Europa befreit sich gerade aus den Krisen der vergangenen zehn Jahre, aber ich glaube, dass immer noch Mangel in Bezug auf die Grundvoraussetzung Integration herrscht. Dieses Modell muss neu belebt werden.

Die EU-Führer rufen selbst zu neuen Ideen, einem neuen Denken in der Integration auf. Ich habe aber das Gefühl, dass der Druck und das Bedürfnis, nun nach diesen Krisen etwas zu verändern, nicht ausreichend ist. Deswegen habe ich in meinem Buch versucht, darzulegen, wie die EU partizipativer und flexibler werden kann.

Wie kann das konkret erreicht werden?

Ich schlage einen Europäischen Bürgervertrag vor, beruhend auf den sehr interessanten und wichtigen neuen demokratischen Entwicklungen, die in vielen EU-Ländern aktuell passieren. Die Bürger engagieren sich heute auf vielfältige Weise in der Lokalpolitik, oftmals außerhalb der üblichen Kanäle der repräsentativen Demokratie.

In der europäischen Politik hat sich in den vergangenen vier oder fünf Jahren etwas geändert. Es gibt ein positives Potenzial, das meiner Meinung nach im Moment nicht voll ausgeschöpft wird.

Im Buch versuche ich daher, zu zeigen, wie lokalpolitische Entwicklungen nach oben in die nationalen und EU-Debatten geschoben werden können. Dadurch sollen nicht die bestehenden Institutionen oder die Top-Down-Ausrichtung der EU-Reformen ersetzt, sondern eher unterstützt werden.

Wie würde dieser Bürgervertrag aussehen?

Es gibt momentan Überlegungen, die Bürger durch zufällige Auswahl in lokalen Versammlungen zusammenzubringen und diskutieren zu lassen, wie die EU der Zukunft ihrer Meinung nach aussehen sollte.

Die Bürger müssen mehr Mitspracherecht in der EU-Agenda bekommen. Die EU-Reformen sollten nicht mehr ausschließlich von oben nach unten diktiert werden, sondern die Bürger müssen einbezogen und befragt werden, ob sie mit einer bestimmten EU-Entscheidung einverstanden sind oder nicht.

Wir haben in den vergangenen zwei, drei Jahren die Gefahren gesehen, die sich auftun, wenn die Bürger nicht regelmäßig in die Europapolitik einbezogen werden und dann ihren Unmut in Referenden äußern – möglicherweise, ohne die Reichweite dieser Unmutsbekundung einzuschätzen. Ich denke deshalb, dass wir in der europäischen Demokratie regelmäßigere partizipatorische Gestaltungsgebilde brauchen.

Sie schlagen eine „von-unten-nach-oben“-Methode vor, um den Elitismus im EU-Projekt zu überwinden. Solche Methoden wurden aber mit den Referenden über den Lissaboner Vertrag in Frankreich und in den Niederlanden bereits verfolgt – mit dem Ergebnis, dass eine europäische Verfassung tot ist und der Populismus sich verschärft hat. Glauben Sie an einen positiven Populismus?

Zunächst einmal argumentiere ich nicht, dass wir ausschließlich eine Bottom-up-Methode für EU-Reformen anwenden sollten. Für mich geht es darum, partizipative und repräsentative Demokratie sehr viel systematischer miteinander zu vereinbaren.

Ich denke, diese ganze Populismus-Debatte ist sehr, sehr schwierig; das gesamte Konzept ist schwammig. Mir ist bewusst, dass viele Leute auf meinen Aufruf zu mehr Bürgerbeteiligung einwenden werden, dass dies schlichtweg zum Ende der EU führen würde.

Ich versuche nicht, die europäischen Bürger nicht zu idealisieren. Aber ich glaube, der Fakt, dass wir heute diese scharfen Trennlinien innerhalb der Bevölkerungen haben, zeigt, dass wir mehr inklusive Prozesse brauchen, in denen die Menschen ihre unterschiedlichen Ansichten ausdiskutieren können.

Es geht also nicht wirklich darum, ob es guten und schlechten Populismus gibt. Es gibt den Druck, die Politik rechenschaftspflichtiger zu machen. Ich glaube, wenn man EU-Politik weiter vorantreibt, ohne diesen Druck im Hinterkopf zu haben, dann riskiert man wirklich, dass sich der Populismus im Laufe der Zeit noch weiter ausbreitet.

Sie argumentieren, dass die EU umgestaltet werden müsste, um die Unterschiede und Verschiedenheiten besser zu managen. Ist das eine Kritik an der Umsetzung des Vertrags von Lissabon? Wurde das Ziel einer „in Vielfalt geeinten“ EU nicht erreicht?

Es gibt vielerlei Ansichten und Aussagen, dass sich die Diversität innerhalb der EU in den vergangenen Jahren verschärft hat. In dieser Hinsicht sage ich nichts, das sonderlich neu wäre. Sogar viele EU-Regierungsführer haben das festgestellt und gesagt.

Es gibt keine goldene Lösung, aber es braucht etwas Greifbares, mit dem die Bürger mehr Mitspracherecht in der europäischen Integration erhalten. Ich finde es besonders auffällig, dass die EU-Regierungsführer seit mehr als 20 Jahren sagen, dass die EU wieder näher am Bürger sein muss, sich aber faktisch nichts ändert, weil immer wieder gerade etwas Wichtigeres, Dringenderes ansteht.

So stockt die weitere Demokratisierung der EU, für die in Theorie scheinbar Alle sind, in der Praxis seit Jahren. In meinem Buch schlage ich daher einige Möglichkeiten vor, wie wir dieses theoretische Ziel praktisch unterfüttern können.

Tatsächlich gibt es ja zwei EU-Institutionen, die die Stimme der Bürger in die Entscheidungsfindungsprozesse der EU einbringen sollen: der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss und der Ausschuss der Regionen. Diese haben bisher aber lediglich eine beratende Funktion. Müssten die beiden Ausschüsse also reformiert werden, sodass sie Gesetzesinitativen einbringen können?

Ganz genau. All diese Institutionen müssen in dieser Hinsicht reformiert werden, aber sie müssen darüber hinaus auch so reformiert werden, dass sie eine bessere Verbindung nach unten, zu den Bürgern, haben. Dadurch wird ihre Legitimität und Glaubwürdigkeit in Verhandlungen mit den Regierungen und den anderen EU-Institutionen erhöht.

Mir geht es um diese Verbindung nach unten. Ich finde, dass die aktuell sehr dynamischen Entwicklungen auf lokaler Ebene noch unterentwickelt sind.

Kann Ihre Idee eines solchen Bürgervertrags auch zu einem besseren Gesetzgebungsprozess beitragen?

Ich denke, alle genannten Entwicklungen sind positive; sie sind Teil eines Gesamtpakets dringend benötigter politischer Reformen. Was ich mit diesem Buch beitragen will, ist, dass es – obwohl wir bessere Gesetzgebungsprozesse brauchen – wichtiger ist, das Subsidiaritätsprinzip so weiter zu entwickeln, dass es weniger technokratisch und etwas offener und partizipativer wird.

Die Subsidiarität selber sollte ein Mittel sein, mehr demokratische Flexibilität in die EU zu bringen und nicht nur ein technisches Prinzip, das hinter verschlossenen Türen verhandelt wird.

Wie genau soll eine solche Flexibilität aussehen? Denken Sie an ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten?

Das sind zwei Fragen; zuerst: Wie wollen wir den Prozess vorantreiben? Ich schlage vor, dass dieser Europäische Bürgervertrag Teil der formalen EU-Reform sein sollte. Aber wenn die Institutionen sich als zu konservativ und stur erweisen, auf die Stimme der Bürger zu hören – was passieren könnte und was ich in meinem Buch auch anmerke – dann müssten die Bürger ihre eigenen Initiativen außerhalb der formalen Prozesse starten. Vielleicht gibt es also eine Alternative, eine Bottom-up-Herangehensweise, mit der innovativere Ideen für die Zukunft vorgeschlagen werden können. Das ist die eine Frage.

In Bezug auf die zweite Frage, die zur Flexibilität, scheint das Modell der zwei Geschwindigkeiten tatsächlich eine Rolle in der zukünftigen EU zu spielen.

In meinem Buch herrscht eine gewisse Skepsis zum Thema Europa der zwei Geschwindigkeiten, weil dadurch neue Trennlinien entstehen und einigen Ländern diese unterschiedlichen Geschwindigkeiten möglicherweise gegen ihren Willen auferlegt werden könnten. Nur sehr wenige Mitgliedstaaten werden sich freiwillig in die zweite, „langsamere“ Gruppe einordnen wollen. Meiner Ansicht nach wird dadurch nicht wirklich mehr Flexibilität geschaffen, sondern nur neue Gegensätzlichkeiten und Antagonismen.

Das Flexibilitäts-Modell, das wir brauchen, muss innovativer und auch etwas radikaler sein, als ein Europa der zwei Geschwindigkeiten.

Können solche Reformen überhaupt vorangetrieben werden, ohne die EU-Verträge zu ändern?

Ich bin überzeugt, dass politische Impulse gegeben werden können, ohne dass ewig lang auf Vertragsänderungen gewartet werden muss. Andere, weiterreichende Änderungen müssten allerdings Teil einer formalin Vertragsänderung sein. Aber auch hier stehen sich die beiden Innovationsmöglichkeiten nicht feindlich gegenüber. Es gibt aktuell viele sehr gute Ideen für eine vertiefte Integration. Ich will, ohne gegen diese Vorschläge zu argumentieren nur sagen: Wir müssen die politischen Prozesse ändern, um die europäische Integration weiter vertiefen.

Frankreichs Präsident Macron hat einige solche Vorschläge gemacht. Halten Sie beispielsweise die angedachten demokratischen Versammlungen von Bürgern für sinnvoll?

Der Vorschlag für demokratische Bürgerversammlungen kommt dem Vorschlag meines Buches am nächsten. Es ist derzeit noch nicht klar, wie diese Versammlungen genau organisiert oder umgesetzt werden sollen, aber sie haben definitive großes Potenzial.

Mein Vorschlag ist insofern leicht anders, weil es mir um konstante, langfristige demokratische Partizipation geht, und nicht um eine zeitlich begrenzte. Ich glaube, dass die Bürger die Agenda bestimmen müssen – und nicht nur an Versammlungen teilnehmen, die von den Regierungen und nach den Bedingungen und Maßstäben dieser Regierungen aufgebaut sind.

Im Moment geschieht genau das. Die Regierungen, auch die von Macron, stellen dar, welche Reformen sie haben wollen. Macron hat seine Vision, seine EU-Reformagenda vorgelegt und sagt nun: Dann hören wir jetzt mal, was die Bürger davon halten. Für mich stellt sich dieses Vorgehen so dar: Die Regierungen und die EU-Institutionen präsentieren, was sie wollen, und benutzen dann demokratische Initiativen, um diese Pläne absegnen zu lassen.

Aus meiner Sicht muss Demokratie genau anders herum verstanden werden. Zuallererst müssen die Bürger darüber nachdenken, welche Art der europäischen Solidarität und Zusammenarbeit sie wollen. Und dann müssen sie diese Ideen in die Reformagenda einbringen können.

Wodurch könnte ein neues Gefühl von europäischer/EU-Identität erreicht werden?

Identität sollte auf liberalen Grundwerten der Toleranz und Nichtausschließung basieren. Das wäre eine entschärfte Form der Visionen der Vergangenheit, in denen es oft um uniforme EU-Bürgerschaft ging. Vielleicht müssen wir unser Bild einer gemeinsamen Identität ein wenig lockern.

Den vollständigen Text dieses Artikels können Sie im Euractiv lesen.

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