Wenn Polen und Ungarn für ihre Verstöße gegen die EU-Regeln nicht bestraft werden, könnte das in Deutschland zu mehr Euroskeptizismus und schwächerem öffentlichem Engagement für die europäische Integration führen, warnt Außenpolitikexperte Cornelius Adebahr.
Dr. Cornelius Adebahr ist Politikberater und Analyst mit Fokus auf europapolitische und globale Fragestellungen. Er ist Associate Fellow am Alfred von Oppenheim-Zentrum für Europäische Zukunftsfragen der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) sowie Gastwissenschaftler bei Carnegie Europe. Adebahr war außerdem Teil des CODES-Projektteams, das Euroskeptizismus in sechs EU-Ländern, darunter Deutschland, untersucht hat.
Er sprach mit Zuzana Gabrižová von EURACTIV Slowakei.
EURACTIV: Für mich war die Art, wie deutsche Teilnehmer auf Ihren Veranstaltungen über die EU redeten, sehr interessant. Es gab nicht den Populismus, den man aus anderen Ländern kennt. Lag das an der Zusammensetzung der Teilnehmergruppen oder spiegelt dies die tatsächliche Einstellung der Deutschen gegenüber des europäischen Projekts wider?
Cornelius Adebahr: Ersteres spielt sicherlich eine Rolle. Diese Veranstaltungen fanden in den großen Städten statt, nicht auf dem Land, und wir haben mit den bestehenden Strukturen der DGAP und anderer Partnerorganisationen zusammengearbeitet. Das waren zum Beispiel in einer Stadt die Handelskammer, in einer anderen eine Universität, in einer dritten das Europahaus – also Institutionen, die eher auf der Mainstream-, pro-EU-Seite zu verorten sind. Dadurch sind sicherlich viele Leute gekommen, die eine eher positive Einstellung haben. Allerdings gab es auch Kritik. Es war nicht so, dass sich alle Teilnehmenden einig waren, wie toll die EU doch sei.
Das stimmt, aber die Kritik war sachlich, nicht populistisch. In Ihrem Abschlussbericht wird auch debattiert, ob der Grund dafür darin liegt, dass die Deutschen ein größeres EU-Bewusstsein oder eine EU-Identität haben.
Wenn Sie diese Menschen fragen, werden einige von ihnen wahrscheinlich sagen: „Ich bin aus Bayern, aber ich bin auch Deutscher und Europäer.“ Man kann unterschiedliche Identitäts-Schichten haben, die sich überlappen, aber nicht gegenseitig ausschließen.
Was wir auch beobachtet haben, ist das tiefsitzende Konzept von ‚Deutschland in Europa‘. Die Leute sprachen selten von Deutschland als losgelöstes, einzelnes Element. Sie sahen meistens einen breiteren Kontext. Sie wissen, dass Deutschland von der europäischen Integration profitiert hat. Einige nannten konkrete Vorteile, andere verwiesen darauf, dass wir seit Jahrzehnten in Frieden leben können.
Das hat aber sicherlich auch damit zu tun, wie wir aufgewachsen sind und was bzw. wie wir über die EU gelernt haben. Deswegen würde ich sagen, dass es eher ein gewisses EU-Bewusstsein gibt, als eine im tiefen Inneren gefühlte europäische Identität. Insgesamt glaube ich, dass die meisten der teilnehmenden Menschen sich auf die eine oder andere Art als Europäer sehen. Gleichzeitig sind sie aber auch kritisch gegenüber vielem, was die EU getan hat. Einige wünschen sich auch eine EU mit 12 oder 15 Mitgliedstaaten; sie denken positiv an die EU der Vergangenheit zurück.
Beim Thema Erweiterung gab es Stimmen, die sagten, die EU habe sich möglicherweise zu schnell vergrößert – aber es gab nicht die Ansicht, die Union hätte sich überhaupt nicht (nach Osten) vergrößern sollen. In Österreich waren die Ansichten diesbezüglich sehr viel radikaler. Glauben Sie, dass es in Deutschland und Österreich verschiedene Auffassungen von Osteuropa gibt?
Bei diesem Punkt gibt es bereits Differenzen innerhalb Deutschlands. Es macht einen Unterschied, ob Sie Menschen im Osten, tief im Westen oder im Süden befragen. In Ostdeutschland gibt es so etwas wie ein Gefühl der Verbundenheit. Man hat ebenso unter sozialistischer Herrschaft gelebt und kann vielleicht eher verstehen, wie schwierig die Transformationsprozesse sind. Für viele Westdeutsche hingegen kommen die meisten mittel- und osteuropäischen Staaten noch nicht einmal als Urlaubsland in Frage.
Was uns sehr aufgefallen ist, war die Forderung, Länder wie Ungarn oder Polen für ihr Verhalten zu bestrafen. Es wurde auf Werte verwiesen, und Verstöße gegen diese gemeinsamen Grundwerte wurden verurteilt. Vielleicht hat dies etwas damit zu tun, dass Deutschland ein Gründungsmitglied ist: Wir wissen, worum es in diesem Club geht, wir haben die Regeln festgelegt und wir lassen jeden mitspielen, der diese Regeln achtet. Und wenn die Regeln nicht geachtet werden, ärgert uns das. Das hat ein wenig etwas von „wir sind jetzt lange genug dabei“ und können anderen Ländern deswegen erklären, wie sie sich zu verhalten haben. Ob das nun hilfreich ist oder nicht, sei dahingestellt. Es scheint aber ein weitverbreitetes Gefühl innerhalb der deutschen Bevölkrung zu sein.
Tatsächlich war in den Befragungsveranstaltungen Deutschland das einzige Land, in dem die Idee von „EU-Grundwerten“ in der Diskussion auftauchte. Fürchten Sie, dass sich der Euroskeptizismus in Deutschland verstärken könnte, wenn solche Themen nicht auf EU-Ebene angesprochen werden?
Auf jeden Fall. Das ist offensichtlich ein Thema, das die Bürger beschäftigt, das ihnen wichtig ist. Wenn ein Jeder tut, was er will, haben wir keine Union. Momentan sehen wir dieses Umgehen von Regeln in Ungarn und Polen, aber vorher gab es auch die Ansicht, dass Griechenland mogelt, seine Finanzen schönt – und Deutschland am Ende zahlt. Das sind natürliche unterschiedliche Fälle, aber es entsteht bei den Bürgern das Bild, dass sich einige Länder an die Regeln halten – und die Deutschen sehen ihr Land so – während andere Staaten das eben nicht machen und nur an den Vorteilen der EU-Mitgliedschaft interessiert sind.
Egal, ob Griechenland gerettet werden muss, oder ob Polen Strukturfondsgelder einstreichen will, ohne sich an Verpflichtungen wie Solidarität in der Flüchtlingskrise zu halten… für die deutschen Bürger ergibt sich ein Bild, das einerseits ihr eigenes Land natürlich sehr positiv dastehen lässt, andererseits aber auch zeigt, wie sie sich Unterstützung und Zusammenarbeit in der europäischen Integration vorstellen. Und wenn sie feststellen, dass diese Grundwerte nicht eingefordert werden, besteht die Gefahr, dass der Eurosekptizismus weiter wächst oder zumindest auf einem kritisch-hohen Level bleibt.
Aus Ihren Befragungen und Diskussionen in Deutschland geht hervor, dass eine Integration mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten ebenfalls als eher spannungsfördernd angesehen wird. In der Slowakei glauben hingegen die meisten Bürger, dass es in Zukunft einen „EU-Kern“ geben wird, der die Integration schneller vorantreibt – und Deutschland wäre das Herz dieses Kerns.
Interessant, dass Sie diese Frage stellen. Die Deutschen wollen dieses Kerneuropa nämlich nicht. Es gibt sehr viele Deutsche, die sagen: „Nein, wir sitzen alle im selben Boot. Jeder, der dabei ist, muss dabei bleiben und wir müssen gemeinsam vorwärts gehen.“ Daher gibt es auch ein gewisses Unverständnis für Länder, die eben nicht weiter voranschreiten wollen. Die Briten wollten beispielsweise niemals die gemeinsame Währung. Das können die Leute hier nicht verstehen.
Der Grundgedanke ist, das wir alle vorankommen sollten, denke ich. Es gibt in Deutschland dieses sehr grundlegende Gefühl, dass die europäische Integration gut für uns ist. Wenn sie gut für uns ist, dann ist sich auch für andere gut. Warum wehren die anderen Länder sich also so sehr gegen weitere Integration?
Ende vergangenen Jahres hatte Martin Schulz vorgeschlagen, die Vereinigten Staaten von Europa bis 2025 zu realisieren. Er wurde aber vor allem dafür heftig kritisiert, dass er erklärt hatte: Wer mitziehen will, kommt mit – und wer nicht, der bleibt zurück. Es gibt unter den Bürgern die starke, weit verbreitete Ansicht, dass Europa als Ganzes vorangetrieben werden muss. Darum geht es; es ist ein gemeinsames Projekt.
Meine eigene Kritik wäre, dass die Menschen hier nicht verstehen können, warum Bürger – nicht nur Regierungen, sondern Bürger – in anderen Ländern nicht die gleiche Art der Integration haben wollen, die wir Deutschen uns scheinbar wünschen. Wir vergessen dabei oft, dass zum Beispiel die Franzosen auch sehr viel weniger enthusiastisch sind, was Integration angeht. Sie wollen vielleicht einen europäischen Finanzminister und einen gemeinsamen Haushalt, aber bei anderen Fragen sind sie sehr zurückhaltend.
Wie interpretieren Sie Schulz’ Aussagen?
Mein allererster Gedanke war: Warum hat er das nicht vor einem halben Jahr, im Wahlkampf gesagt? Ich behaupte nicht, dass dies die Wahlergebnisse dramatisch verändert hätte, aber nach der verlorenen Wahl fragten ihn viele Leute: „Warum haben Sie nicht über Europa geredet? Warum haben Sie nicht dieses Thema eingebracht, in dem Sie sich von der Kanzlerin unterscheiden können?“
Mein zweiter Gedanke ist, dass es ein sehr ambitionierter Plan ist. Warum hat Schulz 2025 vorgeschlagen? Weil die SPD im Jahr 1925 angekündigt hatte, die Vereinigten Staaten von Europa aufbauen zu wollen. Schulz spielt also mit dieser Symbolik.
Wenn ich daran zurückdenke, wie wir 2004/2005 versucht haben, eine europäische Verfassung einzuführen… Das ist zwölf Jahre her und Schulz schlägt jetzt etwas viel Weitreichenderes in den kommenden acht Jahren vor. Der Zeitrahmen ist also sehr ambitioniert. Mir scheint es, als habe er eine Vision präsentieren wollen. Er will die Debatte anregen. Ich denke, da spielt vor allem ein persönliches Element mit rein.
Den vollständigen Text dieses Artikels können Sie im Euractiv lesen.